Predigt zum Altjahresabend (31. Dezember 2020) 2. Buch Mose, Kap. 13
Pfarrer Dr. Christoph Weiling Liebe Gemeinde, wir stehen jetzt auf einer Schwelle. Es beginnt das Jahr 2021 - wir setzen große Hoffnungen darauf. Denn ein Jahr geht still zu Ende, das uns allen viel abverlangt hat. "Das Jahr, in dem ein Virus die Welt veränderte", so wird 2020 wohl im Gedächtnis bleiben. Manche hat es unmittelbar getroffen. Sie wurden krank. Einige schwer. Viele Menschen starben an oder mit Corona. Noch mehr traf es mittelbar. Sie wurden um Lohn und Brot gebracht, wissen auch jetzt noch nicht, wie es weitergehen soll mit dem Geschäft, dem Restaurant, dem Kulturbetrieb. Auch wir Kirchenmenschen sind traurig und enttäuscht, vermissen menschliche Nähe, Umarmungen, den gemeinsamen Gottesdienst, das Singen der vertrauten und schönen Kirchenlieder in großer Gemeinde. Vielleicht werden all das, was uns so selbstverständlich geworden war, eines Tages wieder umso mehr schätzen. Für ein Abwägen aller Interessen und Kompromisse boten die letzten Monate wenig Gelegenheit. Es mussten Maßnahmen entschieden und stringent durchgesetzt werden. Das gelang nicht immer ohne Verletzungen und Enttäuschungen. Vertrautes blieb auf der Strecke - hier und da auch Vertrauen. „Wir haben am Ende dieses Jahres einander manches zu verzeihen,“ gab Jens Spahn schon zu Beginn der Krise zu bedenken. Unser Glaube weiß aber, dass wir das mit Gottes Hilfe können: vergeben und verzeihen. Katastrophen verunsichern. Sie decken menschliche Schwächen auf, setzen aber auch menschliche Stärken frei. So wird mitten im Bösen auch Gutes gewirkt, wandelt sich der Fluch zuweilen sogar in Segen. So hat die Pandemie Narzissmus und Unbelehrbarkeit entlarvt, aber auch sichtbar gemacht, dass gegenseitige Ermutigungen, Bereitschaft zum Verzicht und Einschränkungen im Interesse des Gemeinwohls möglich sind. Die verordnete Stille ausgerechnet an den Tagen, die sonst durch Kommerz und Konsum geprägt waren, machte die Frage hörbarer, was wirklich zählt: Wie können wir eine andere Welt gestalten mit einem neuen Blick füreinander und auf die Schöpfung? Persönliche Kontakte mussten eingeschränkt werden. Doch Briefe, das Telefon und mediale Begegnungen hielten Verbindungen aufrecht. Mancher Gedankenaustausch war sogar intensiver als je zuvor. Es ist also nicht alles nur schlechter geworden in 2020. Ja, Internet-Giganten sind monatelang die großen Nutznießer der Krise gewesen - aber nun sollen zumindest Teile ihrer Einnahmen an die kleinen Einzelhändler in unseren Innenstädten gehen - der Sinn für Gerechtigkeit kommt zu Gehör. Den Lobbyisten zum Trotz. Gewiss, noch nie waren alle Planungen und Prognosen so fragil wie in diesem Jahr; "kalkulierbar" das wirkt wie ein Fremdwort - "außer Kontrolle" mag es dagegen zur Redewendung des Jahres bringen; derweil hat aber die Wissenschaft in kürzester Zeit Großartiges geleistet: Die ersten Impfzentren gehen bald an die Arbeit. Das ist ein Triumph des menschlichen Geistes, mit dem uns der Schöpfer nicht umsonst begabt hat. Dafür gilt es Dank zu sagen und zuversichtlich nach vorne zu schauen. Gott ist bei uns. Er überrascht uns. Er, der am Heiligen Abend zu uns gekommen ist, lässt uns nicht im Stich. Er begleitet uns. Er lässt uns immer wieder neue Möglichkeiten sehen. Die biblische Geschichte zum Jahreswechsel erinnert nicht grundlos an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Auch Wüstenzeiten sind Krisenzeiten. Der Auszug aus Ägypten war mit einer Abfolge heftigster Erschütterungen und Katastrophen verbunden, mit Halsstarrigkeit und Uneinsichtigkeit. Zunächst traf es die Sklavenhalter. Der Tod hielt gnadenlos Ernte im Lande Ägypten. Aber auch das Volk Israel - hastig aufgebrochen und nun mit Kindern und Älteren auf der Flucht - musste um seine Existenz zittern. Noch verfügte der Feind über eine schlagkräftige Armee, über Bogenschützen, schnelle Streitwagen und Pferdegespanne. Eine Staubwolke in der Ferne zeigte an, dass man ihnen bereits hart auf den Fersen war. Wie also weiter? Wer wusste den Weg durch die Wüste hindurch? Gab es überhaupt genug zu essen und zu trinken unterwegs? War nicht die Wüste das Land der Gluthitze am Tage und ein Land der Todesschatten bei Nacht? Doch der Herr ließ die Seinen nicht verderben! Im 2. Buch Mose, Kap. 13 lesen wir die Verse:
18 Und die Israeliten zogen aus Ägyptenland hinaus und machten sich auf den Weg durch die Wüste zum Schilfmeer. 20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. 21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. Liebe Gemeinde, wie Gott nach dem 23. Psalm in den finsteren Tälern an unserer Seite bleibt, so gilt auch nach dieser biblischen Erzählung: Er ist da, am Tage wie in der Nacht. Was wären in der heutigen Zeit wohl die Wolkensäule am Tage und die Feuersäule in der Nacht? Doch das, was uns wieder gewiss macht und tröstet! Das, was uns Orientierung schenkt und den Weg weist aus der Krise heraus! Am klarsten aber leitet die Vernunft. Und am stärksten leitet die Nächstenliebe. Sie sind unsere Wolken- und Feuersäule, die uns durch diese Wüstenzeit der Pandemie am sichersten führen. Die Vernunft lehrt, auf Versammlungen von Menschen möglichst zu verzichten, Abstand zu halten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen, - um das Virus so auszubremsen. Die Vernunft weiß sich gut beraten durch unsere Wissenschaft. Auch wo ganz ehrlich Nichtwissen, Unsicherheit und Noch-nicht-Wissen zugegeben werden, stellt die Vernunft nicht gleich alles infrage. Sie läuft nicht den Ahnungslosen und Verschwörungstheoretikern hinterher, die die Katastrophe durch rücksichtsloses Fehlverhalten ihrerseits noch mehr antreiben. Die zweite Säule aber, auf die wir uns stützen können, ist die Nächstenliebe. Sie ergibt sich aus der Weihnachtsbotschaft von der Liebe Gottes und dem damit verbundenen Auftrag an die Gläubigen, seiner Liebe zu den Menschen zu entsprechen. Die Nächstenliebe ehrt Gott in seinen Geschöpfen. Der Nächstenliebe ist der Mensch wichtiger als Sabbate und Festtage; die Sorge um die Bedürftigen und Schwachen wichtiger als die Sorge um eine gute Presse. Sie ist das Gegenteil von wortreicher Anbiederei, der es vornehmlich nur um die eigene Person und um Geltung geht. Nächstenliebe hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie hält davon ab, sich zu verzetteln. Nächstenliebe verleiht deswegen Ausdauer - wie damals die Feuersäule bei Nacht. Und Vernunft hilft den rechten Weg zu erkennen - so wie damals die Wolkensäule am Tage. Vernunft hier, Nächstenliebe dort - wo wir diese beiden unsere Wolken- und unsere Feuersäule sein lassen, so dass sie uns leiten, werden wir gut in das neue Jahr kommen und auch gut wieder heraus. Nächstenliebe und Vernunft machen uns nicht fehlerfrei. Sie garantieren auch nicht, dass wir unverletzt bleiben. Aber sie helfen, auch Wüstenzeiten zu durchstehen, schärfen den Blick für das, was getan werden muss, bewahren vor Sackgassen. Mögen die Zukunftsaussichten auch weiter unsicher bleiben, Nächstenliebe und Vernunft sorgen dafür, dass wir überhaupt zu Zukunftsaussichten kommen. Daher: Die Nächstenliebe und die Vernunft machen uns nicht zu Engeln, aber sie sind Gottes Weisen, uns menschlich zu machen oder dafür zu sorgen, dass wir es wieder werden.
Amen.
LIEDER zum Singen oder Bedenken an diesem Abend: EG 64 Der du die Zeit in Händen hast EG 63 Das Jahr geht still zu Ende EG 652 Von guten Mächten
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